10 Sekunden, die Sportgeschichte schrieben

Vor 50 Jahren lief Armin Hary seine Fabelzeit im 100-Meter-Lauf

Der Läufer trug das weiß-rote Trikot eines Frankfurter Vereins: des FSV Frankfurt. Am 21. Juni 1960 sprintete Armin Hary in Zürich in unglaublichen 10,0 Sekunden über die Aschenbahn und errang damit einen Weltrekord. Im selben Jahr gewann der Sprinter dann auch die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Rom, und Frankfurt feierte „seinen“ Sieger.

Frankfurt am Main (pia) Es ist ein schöner Sommertag, mit Temperaturen um 30 Grad bei mattem Wind. Beim Internationalen Sportfest im Letzigrund in Zürich steht die Entscheidung im 100-Meter-Lauf an. Nach dem Startschuss um 19.45 Uhr löst sich Armin Hary vom Feld seiner fünf Konkurrenten – und läuft die 100 Meter in unglaublichen 10,0 Sekunden. Die Kampfrichter trauen ihren Uhren nicht. Das Rennen wird wegen angeblichen Frühstarts nicht gewertet. Doch der Starter, dem darüber eigentlich die alleinige Entscheidung zukommt, hatte nicht zurückgeschossen. Unter Hinweis auf die Wettkampfbestimmungen protestiert Hary und setzt einen weiteren Lauf durch. Für ein reguläres Rennen braucht er noch zwei Mitläufer. Der Kölner Jürgen Schüttler und der Schweizer Heinz Müller lassen sich darauf ein. Um 20.20 Uhr, nur 35 Minuten nach dem ersten, startet der zweite Lauf. Diesmal geht Hary auf Nummer Sicher. Als Letzter verlässt er die Blöcke – um als Erster ins Ziel zu wirbeln. Und er hat es erneut geschafft: Zehnkommanull. Der Stadionsprecher hat die magische Zahl kaum ausgesprochen, da tobt das Publikum los. Neuer Weltrekord. Über eine Viertelstunde lang feiern die 14.122 Zuschauer im Letzigrund den jungen Deutschen.

Im Frankfurter Stadtwald machte er auf Kondition

Der sensationelle Weltrekord von Armin Hary vor 50 Jahren, am 21. Juni 1960, hat Sportgeschichte geschrieben. Es waren zehn Sekunden für die Ewigkeit. Hary lief sie im weiß-roten Trikot seines Vereins: des FSV Frankfurt. Der Frankfurter Sportverein hatte seit 1957 ein Leichtathletikzentrum aufgebaut. Dafür verpflichtete er gleich vier Sportler der Spitzenklasse: den Mittelstreckenläufer Paul Schmidt, die Langstreckenlegende Ludwig Müller, den Kugelstoßer Hermann Lingnau, der später unter Oberbürgermeister Rudi Arndt zum Stadtkämmerer aufstieg, und eben den Sprinter Armin Hary, der in seiner kurzen Frankfurter Zeit zum schnellsten Menschen der Welt wurde. Der Verein besorgte dem knapp 23-jährigen Athleten damals „ein hübsches Einzimmer-Appartment“ und eine Anstellung in einem Kaufhaus auf der Zeil. Mehr war in der Ära des Amateursports nicht drin. Hary war’s zufrieden. Ihn überzeugten vielmehr die idealen Trainingsverhältnisse, die er in Frankfurt vorfand: Das Stadion am Bornheimer Hang bot ihm die Möglichkeit zu seinem legendären Treppentraining, bei dem er zehnmal mit einem Sandsack auf den Schultern bis in die obersten Ränge rannte, und anschließend konnte er im Stadtwald „auf Kondition machen“.

Ein paar abgewetzte Spikes bringen ihn auf die Aschenbahn

Armin Hary stammt aus einfachen Verhältnissen. Geboren am 22. März 1937 in Gersweiler bei Saarbrücken, absolvierte der Sohn eines Bergarbeiters die Volksschule und dann eine Feinmechanikerlehre. Weil die Mutter den Fußball als Sport für den Jungen zu gefährlich und vor allem zu schmutzig fand, war Armin in der Leichtathletikabteilung des heimischen TuS Quierschied gelandet. In Saarbrücken brachte er es immerhin bis zum saarländischen Landesmeister im Zehnkampf. Erst als ein Übungsleiter ihm ein abgewetztes Paar Spikes schenkte, spezialisierte sich der mittlerweile 19-Jährige auf den Sprint. Er kam buchstäblich aus dem Nichts, als er bei den Deutschen Juniorenmeisterschaften in Oberhausen im Sommer 1957 den 100-Meter-Lauf überlegen mit 10,4 Sekunden gewann. Daraufhin von dem Trainer Bert Sumser nach Leverkusen geholt, startete Hary im nächsten Jahr voll durch. Bei den Europameisterschaften in Stockholm 1958 gewann er zweimal Gold, mit der 4 x 100-Meter-Staffel und vor allem in der Königsdisziplin über 100 Meter – ausgerechnet gegen den allseits beliebten Kölner Favoriten Manfred Germar, was ihm Funktionäre wie Fans übelnahmen.

Unter dem Druck der Funktionäre

Kurz darauf, in Friedrichshafen am 6. September 1958, lief Armin Hary zum ersten Mal die Fabelzeit von 10,0 Sekunden. Der einfach unvorstellbare Weltrekord wurde nicht anerkannt. Beim millimetergenauen Vermessen der Strecke stellte sich heraus, dass Harys Bahn als einzige zu viel Gefälle hatte: knapp elf statt der zulässigen 10 Zentimeter. Noch konnte offenbar nicht sein, was nicht sein durfte. Mitten in der nächsten Saison, im August 1959, floh Armin Hary, mehr menschlich als körperlich verletzt, nach Amerika. Nicht nur eine Zerrung im Oberschenkel machte ihm zu schaffen. Vor allem wollte er sich dem Druck der Funktionäre entziehen, die ihn immer wieder zu Starts zwingen wollten – auch wenn er selbst sich weigerte, weil er eine größere Verletzungsgefahr spürte. Schließlich wollte er Olympia nicht aufs Spiel setzen.

Frankfurt feiert seinen Olympiasieger

Zu Beginn des Olympischen Jahrs 1960 kehrte Armin Hary mit einem klaren Ziel nach Deutschland zurück: Er wollte den Weltrekord und den Olympiasieg. Und tatsächlich: Nach den „Zehnkommanull von Zürich“ holte er sich bei den Olympischen Spielen in Rom am 1. September 1960 die Goldmedaille über 100 Meter, in einer unvergessenen „Nervenschlacht“ mit vier Startversuchen in acht schier endlosen Minuten, die – erstmals bei diesen Spielen – die ganze Welt live am Fernsehschirm verfolgen konnte. Eine Woche später gewann der blonde Blitz mit der Sprintstaffel zum zweiten Mal olympisches Gold. Nach einem wiederum aufregenden Finale brachte den vier deutschen Läufern Bernd Cullmann, Armin Hary, Walter Mahlendorf und Martin Lauer erst die Disqualifikation der Amerikaner infolge eines Wechselfehlers den Sieg. Damit war Hary auf dem Gipfel seiner Laufbahn angekommen, und Frankfurt feierte „seinen“ Olympiasieger.

Mit 24 Jahren erklärte er seinen Rücktritt

Schnell, nach nur drei Sommern im absoluten Hochleistungssport, folgte dann das Ende von Harys Karriere. Wegen „verbandsschädigenden Verhaltens“ und eines „Verstoßes gegen die Amateurbestimmungen“ wurde der Olympiasieger noch im Jahr seiner größten Erfolge vom Deutschen Leichtathletikverband für mehrere Monate gesperrt. Schwerer als eine falsche Spesenabrechnung – es ging um 70 Mark Fahrtkosten – wog dabei, dass Hary in einer Illustrierten geäußert hatte, seiner Meinung nach seien „die Funktionäre für die Sportler da und nicht die Sportler für die Funktionäre“. Nach Ablauf der Sperre im Frühjahr 1961 erklärte Hary, im Alter von gerade 24 Jahren, seinen Rücktritt. Rückblickend hätte er nichts Klügeres tun können: Er wäre immer nur sich selbst hinterhergelaufen.

Sabine Hock

Die Biographie „Läufer des Jahrhunderts – Die atemberaubende Karriere des Armin Hary“ von Knut Teske ist 2007 im Verlag Die Werkstatt in Göttingen erschienen und zum Preis von 24,90 Euro im Buchhandel erhältlich.

Service PRESSE.INFO, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Feature vom 10.06.2010

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