Goethes Suleika

Marianne von Willemer (1784-1860) zum 150. Todestag am 6. Dezember 2010

- Langfassung -

Sie begegneten sich 1814/15 in Frankfurt und entbrannten in Liebe füreinander. Gebunden an andere Partner, konnten Marianne von Willemer und Goethe ihre Leidenschaft nur in einem poetischen Dialog als Suleika und Hatem ausleben. In seinen Gedichtzyklus „West-östlicher Divan“ ließ Goethe stillschweigend auch einige Gedichte von Marianne einfließen.

Erst als Marianne schon ein „Großmütterchen“ war, gestand sie einem jungen Gelehrten ihr jahrzehntelang gehütetes Geheimnis. Nicht nur in Frankfurt war zwar bekannt, dass der Geheimrat Johann Jacob von Willemer und seine Gattin Marianne einst in enger Verbindung zu Goethe gestanden hatten, und mancher Verehrer des Dichterfürsten kam daher zu der mittlerweile verwitweten Geheimrätin, durfte vielleicht sogar das eigens angefertigte, schreinartige Kästchen bestaunen, in dem sie ihre Korrespondenz mit Goethe „wie ein Heiligthum“ aufbewahrte. So lernte Marianne auch den Literatur- und Kunsthistoriker Herman Grimm, Sohn des Germanisten und Märchensammlers Wilhelm Grimm, kennen, der sie seit 1849 öfter in Frankfurt besuchte. Bei einem Spaziergang, bei dem „ein seufzender Wind über die Felder ging“, zitierte Grimm spontan das Gedicht an den Westwind aus Goethes „West-östlichem Divan“. „Marianne machte Halt“, so erinnerte er sich, „(...) und sah mich immer an, als wolle sie etwas sagen und besänne sich, ob sie es thun sollte.“ Da plötzlich erriet er, was Marianne dann nur noch zugeben konnte: Das Gedicht und noch einige andere aus dem „Divan“ hatte sie verfasst! Marianne und Goethe waren während dessen letzter Aufenthalte in Frankfurt 1814/15 leidenschaftlich füreinander entbrannt. Ihre Liebe konnten sie, beide an andere Partner gebunden, jedoch nur im poetischen Dialog als Hatem und Suleika ausleben, den Goethe zugleich in seinem Gedichtzyklus „West-östlicher Divan“ literarisch verwertete. So ließ er in das Werk stillschweigend einige Gedichte von Marianne einfließen, etwa die Lieder an den Ostwind und den Westwind, die zu den schönsten der deutschen Liebeslyrik gehören.

Das Geheimnis nahm sie mit ins Grab

Als Marianne von Willemer vor 150 Jahren, am 6. Dezember 1860, starb, nahm sie ihr Geheimstes noch mit ins Grab - vielleicht sogar ganz im gegenständlichen Sinne. Denn die meisten Originale ihrer Korrespondenz mit Goethe sind seitdem verschollen. So vermutet Professor Anne Bohnenkamp-Renken, Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts und Kennerin des „West-östlichen Divans“, dass Marianne das Kästchen mit den Briefen als ihr Liebstes und damit stellvertretend für den Liebsten an ihrer Seite bestatten ließ. Offenbar wollte sie jedoch den Inhalt der wertvollen Briefe der Nachwelt erhalten, denn sie ließ Abschriften davon anfertigen, die sie selbst korrigierte. Ihre Mitautorschaft am „Divan“ allerdings mochte Marianne eigentlich nicht veröffentlicht wissen. „Aber davon weiß die Welt nichts, und es ist auch nicht nötig, daß es alle Leute erfahren“, soll sie einmal gesagt haben. Herman Grimm publizierte „es“ dennoch, wenn auch erst zum 50-jährigen Erscheinen des „Divans“ 1869, also neun Jahre nach Mariannes Tod.

Eine entzückende Tänzerin

Die Bekanntschaft des Bankiers Johann Jacob (von) Willemer mit Goethe ging wahrscheinlich auf eine alte Frankfurter Familienfreundschaft zurück. Von seiner Mutter, einer eifrigen Theaterbesucherin, wird Goethe in Weimar auch von der aus Österreich stammenden Schauspielerin und Tänzerin Marianne Jung gehört haben, die als 14-jährige Tochter einer Schauspielerin im Gefolge des Tanzmeisters Traub 1798 an das Frankfurter Theater gekommen war. In dem Ballett vom Harlekin, der aus dem Ei schlüpft, war das Mädchen so entzückend, dass der Dichter Clemens Brentano sein Herz an sie verlor. „Ich liebte sie still weg“, schrieb er 1803, doch Willemer habe sie von der Bühne genommen und „zu seinem Pflegekind (maitresse)“ gemacht. Tatsächlich hatte der theaterbesessene Witwer Willemer die 16-Jährige ihrer Mutter gegen 2.000 Gulden und eine Leibrente regelrecht „abgekauft“. Seit dem Jahr 1800 lebte Marianne im Haus des Bankiers, wurde zusammen mit dessen etwa gleichaltrigen Töchtern aus erster Ehe erzogen und im Gesang, Klavier- und Gitarrenspiel ausgebildet. Ihr Verhältnis zum Hausherrn wurde indessen zum Stadtgespräch.

Goethe zog es ihretwegen wieder nach Frankfurt

Auch Goethe wusste davon, bevor er Marianne im Sommer 1814 persönlich kennenlernte. Damals besuchte ihn „Willemer mit seiner kleinen Gefährtin“ (so Goethe in einem Brief an seine Frau Christiane) während einer Badekur in Wiesbaden. Goethe fühlte sich offenbar sofort leidenschaftlich zu Marianne hingezogen. Wohl nur ihretwegen kam er auf der Rückreise von Wiesbaden im September 1814 zum ersten Mal seit 17 Jahren wieder länger in seine Vaterstadt Frankfurt. Kurz nach Goethes Abfahrt nach Heidelberg, wo er die Gemäldesammlung der Brüder Boisserée besichtigte, hat Willemer seine langjährige Geliebte Marianne plötzlich geheiratet. An dieser überstürzten Eheschließung, so will es die Legende, soll Goethe nicht unschuldig gewesen sein. Er habe der knapp 30-jährigen (und damit 35 Jahre jüngeren) Marianne derart den Hof gemacht, dass Willemer sich aus Eifersucht doch noch zur Legitimierung seiner Liaison mit Marianne habe hinreißen lassen. Nach der Rückkehr aus Heidelberg im Oktober 1814 fand Goethe jedenfalls seinen „würdige[n] Freund (...) in forma verheirathet“ vor, was ihn nicht an weiteren Besuchen bei der nunmehrigen „Frau Geheimräthinn Willemer“ hinderte. Am 18. Oktober 1814 feierten Willemer, seine Frau und der Dichterfürst in Willemers Gartenhäuschen auf dem Sachsenhäuser Mühlberg den Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig. An jenem schicksalhaften Abend konnten sich Goethe und Marianne heimliche Zeichen ihrer sehnsüchtigen Liebe geben.

Voll „Lust und Leben“

Zwei Tage später reiste Goethe nach Weimar ab – um im kommenden Sommer als Gast der Willemers nach Frankfurt zurückzukehren. Ab dem 12. August 1815 nahm er sein Quartier bei dem Ehepaar, hauptsächlich in dessen Sommersitz auf der Gerbermühle am Main, zwischendurch auch für einige Tage im Stadthaus „Zum Roten Männchen“ am Fahrtor. Auf der Gerbermühle feierte er am 28. August 1815 im Kreise der Freunde seinen 66. Geburtstag und verbrachte hier die „allerschönste Zeit“, wie er später einmal bekannte. Das Leben des Dichters in den Wochen auf der Gerbermühle schilderte Marianne rückblickend: „Den Morgen brachte er allein zu; den Mittag erschien er, auch wenn kein Besuch da war, im Frack; nachmittags liebte er gemeinsame Spaziergänge, besonders in den Wald, wo er voll Lust und Leben und sehr mitteilend war. (...) Abends war er am liebenswürdigsten, besonders wenn er in seinem weißflanellenen Rock erschien und vorlas, meist aus seinem immer mehr heranwachsenden Divan.“ Im Entstehungsprozess des „West-östlichen Divans“ verwoben sich in jenen Wochen Dichtung und Wirklichkeit: Goethe schlüpfte selbst in die Rolle des Hatem, und Marianne wurde seine geliebte Suleika.

Krank vor Sehnsucht

Am 18. September 1815 fuhr Goethe nach Heidelberg weiter, wohin ihm die Willemers für ein paar Tage nachreisten. Danach haben sich Goethe und Marianne nie wiedergesehen. Zwar machte er sich auch im folgenden Jahr zu einer Reise an Rhein und Main auf. Zwei Stunden vor Weimar brach jedoch die Achse seines Wagens. Goethe deutete dies als böses Omen und kehrte um. Marianne, vergeblich auf seine Wiederkehr hoffend, verfiel in Depression und Krankheit. „Soviel ist gewiß, an einer Sucht scheine ich allerdings zu leiden, aber weder an Wasser-, Schwind-, Lungen-, Milz- noch Lebersucht, aber wohl an Sehnsucht“, schrieb Marianne ihrem Frankfurter Arzt von einem Kuraufenthalt in Baden-Baden 1818. „Und ich weiß nicht, ob es nicht die schlimmste von allen Süchten ist.“ Linderung brachte ihr erst der „West-östliche Divan“, dessen Druckbögen Goethe im August 1819 an sie schickte. Das Werk wurde Marianne zum „Buch der Bücher“, das sie „immer und immer wieder“ las. Im Herbst 1860 fuhr sie noch einmal nach Heidelberg, auf den Schlossberg, wo sie Goethe 1815 zum letzten Mal gesehen hatte. Zwei Monate später starb Marianne von Willemer im Alter von 76 Jahren in ihrer Frankfurter Witwenwohnung. Auf dem alten Teil des Hauptfriedhofs fand sie ihre letzte Ruhestätte. „Die Liebe hört nimmer auf“, steht auf dem schlichten weißen Grabkreuz.

Sabine Hock

Zum 150. Todestag der Marianne von Willemer veranstaltet das Freie Deutsche Hochstift, Großer Hirschgraben 23-25 (Goethehaus), in Kooperation mit der Frankfurter Stiftung Maecenia für Frauen in Wissenschaft und Kunst am 7. Dezember um 19 Uhr einen Liederabend „Sollst ewig mir Suleika heißen“ mit Monika Eder, Sopran, und Gerold Huber, Klavier. Eintritt für Mitglieder 8 Euro, für Gäste 16 Euro.

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