Pioniere der Hirnforschung in Frankfurt

Die deutsch-jüdische Geschichte von Ludwig Edingers Neurologischem Institut

Hirnforschung hat in Frankfurt Tradition: Das nach seinem Gründer benannte Edinger-Institut gilt als älteste Hirnforschungsstätte in Deutschland. Der Neurologe und die ihm nachfolgenden meist jüdischen Mitarbeiter bauten bis zu ihrer Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland das Institut zu einer Forschungsstätte von Weltruf aus.

Frankfurt am Main (pia) Erst mit 59 Jahren avancierte der Ausnahmegelehrte zum Professor an einer Universität.Nach seiner Habilitation in Gießen 1881 war Ludwig Edinger die Karriere an einer Hochschule versagt geblieben - wegen seiner jüdischen Herkunft. Der Mediziner ließ sich daher als „Practischer Arzt und Spezialist für Nervenheilkunde“ in Frankfurt nieder und begründete „nebenbei“ sein Neurologisches Institut (NI), wo er bald wichtige Grundlagenarbeit in der Hirnforschung leistete. Edingers Idee war es, durch den detaillierten Vergleich des Gehirns in der evolutionär aufsteigenden Tierreihe einzelnen Hirnteilen definierte Leistungen zuzuordnen. Das von ihm geleitete und finanzierte Institut konnte er schließlich der neu gegründeten Frankfurter Universität angliedern. Bei deren Eröffnung 1914 wurde er zum Ordinarius für Neurologie ernannt, dem ersten in Deutschland. Künftig wollte er das NI großzügig ausbauen, zu einer interdisziplinären Stätte zur Erforschung des Nervensystems „auf den verschiedensten Wegen“, um etwa eine Brücke zwischen Hirnforschung und Psychologie zu schlagen. Sein ehrgeiziges Projekt konnte er nicht mehr verwirklichen. Am 26. Januar 1918 starb Ludwig Edinger im Alter von 62 Jahren nach einer bereits geglückten Operation unerwartet an Herzversagen. Noch nach seinem Tod zeigte er sich als Hirnforscher bis zur letzten Konsequenz: Er hatte verfügt, dass sein Gehirn in seinem Institut seziert werden sollte.

Das inzwischen nach seinem Gründer benannte Edinger-Institut in Frankfurt gilt heute als die älteste Hirnforschungsstätte in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Neurologische Institut bereits Ende der vierziger Jahre seine Arbeit wieder auf. Die Nachkriegsneurologen pflegten den Mythos, dass das Institut nach Edingers Tod nur noch so vor sich hin vegetiert habe, bis sie es zu neuem Leben erweckt hätten. Tatsächlich hatte Edinger aber direkte Nachfolger. Die Geschichte des Instituts zwischen 1918 und 1945, das Schicksal der meist jüdischen Mitarbeiter und die Annäherung an das nationalsozialistische Regime wurden lange verschwiegen. Erst in den letzten Jahren hat sich das NI, etwa mittels Veröffentlichungen des Medizinhistorikers und Institutsmitarbeiters Dr. Gerald Kreft, seiner Vergangenheit gestellt.

Ludwig Edinger selbst hatte sich seinen Nachfolger gewünscht. Der Neurologe Kurt Goldstein stand seit 1914 der neuropathologischen Abteilung am Institut vor. Sofort nach Edingers plötzlichem Tod übernahm er, zunächst kommissarisch, die Leitung des Neurologischen Instituts. 1922/23 wurde Goldstein offiziell zum Direktor des Instituts und zum Ordinarius für Neurologie an der Frankfurter Universität ernannt. Auf der Grundlage seiner Erkenntnisse aus der Behandlung von Hirnverletzten des Ersten Weltkriegs schuf er zusammen mit dem Gestaltpsychologen Adhémar Gelb die neue Disziplin der wissenschaftlichen Neuropsychologie. 1930 wechselte Goldstein nach Berlin, wo er bis zu seiner Emigration 1933 die neurologische Abteilung am Lehrkrankenhaus Moabit aufbaute und leitete.

Zu den Assistenten, die am Neurologischen Institut arbeiteten, gehörte seit 1931 die vor 40 Jahren verstorbene Paläontologin Tilly Edinger. Die Tochter des Gründers hatte zu dieser Zeit bereits einen eigenen Zweig der Neurologie entwickelt. Während der Arbeit an ihrer Dissertation war ihr zufällig das unansehnliche Schädelfragment eines Nothosaurus, eines ausgestorbenen Reptils der Triaszeit, in die Hände gefallen. Mit einem Blick erkannte Edingers Tochter, dass die Schädelhöhle mit versteinertem Schlamm ausgefüllt war, der so einen kompletten Abguss des früheren Gehirns lieferte. Fortan widmete sich Tilly Edinger als erste Forscherin der Analyse fossiler Sauriergehirne. Die Basis für ihre wissenschaftliche Arbeit bot ihr das Senckenbergmuseum, wo sie stets ehrenamtlich tätig war. Ihr Buch „Die fossilen Gehirne“ (1929), mit dem sie endgültig die Paläoneurologie begründete, sollte gerade als Habilitation anerkannt werden, als ihre Hoffnungen auf eine Professur in Deutschland durch Hitlers „Machtergreifung“ 1933 jäh beendet wurden. Tilly Edinger musste noch 1933 ihre Assistentenstelle am NI aufgeben und 1938 auch ihren Sitz im Vorstand der nunmehr „arisierten“ Ludwig-Edinger-Stiftung räumen. Nach dem Novemberpogrom 1938 durfte sie das Senckenbergmuseum nicht mehr betreten. Buchstäblich in letzter Minute konnte sie 1939 über England in die USA emigrieren, wo sie ihre wissenschaftliche Arbeit am Museum for Comparative Zoology in Cambridge fortsetzte.

Während ihrer Frankfurter Zeit am Neurologischen Institut, das sie gemeinsam mit weiteren Mitarbeitern zu einer Forschungsstätte von Weltruf aufbauten, begründeten Ludwig Edinger, Kurt Goldstein und Tilly Edinger ihre speziellen Zweige in der Neurologie. Heute gehören ihre Forschungsgebiete der Vergleichenden Neuroanatomie, der Neuropsychologie und der Neuropaläontologie zu den Grundlagendisziplinen der modernen „Neuroscience“. Diese ganz nach Edingers Wunschvorstellung übergreifend arbeitende Wissenschaft hat ihren Platz in Frankfurt seit November 2006 in einem „Zentrum für Interdisziplinäre Neurowissenschaften“ (ICN) am Universitätsklinikum, das auch das Edinger-Institut beherbergt.

Sabine Hock

Eine umfangreiche Studie „Deutsch-jüdische Geschichte und Hirnforschung – Ludwig Edingers Neurologisches Institut in Frankfurt am Main“ von Gerald Kreft ist im Mabuse-Verlag erschienen und zum Preis von 44 Euro im Buchhandel erhältlich.

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 22 vom 05.06.2007

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