Erlebdes un Erlauschdes

Cover Erlebdes un Erlauschdes

Karl Ettlinger

Erlebdes un Erlauschdes

Noch mehr Gedichtcher un Geschichtcher von eme alde Frankforder.

Herausgegeben von Sabine Hock.

Nidderau: Naumann 1994.
(Ettlinger · Lesebuch 2)
 

Zum Geleit

Gesammelt haww ich mei Boëme.
E kläänes Werkche mach ich draus.
Un schick's zor meeglichst aagenehme
Un frohe Fahrt zum Haus enaus.

Sin lust'ge Dinger, ohne Dugend,
Doch harmlos nor, se määne's gut.
Die meiste schdanne in der „Jugend“,
Die de Humor ja pflege dhut.

So fliegt dann fort, Ihr klääne Sache!
Du, Rezensent, behannel's mild,
Denn dhut der Leser manchmal lache,
Dann is dem Buch sei Zweck erfüllt!

Neues „von eme alde Frankforder“

„Ich finde das Leben schön“, schrieb Karl Ettlinger anläßlich seines 50. Geburtstags 1932 an den Frankfurter General-Anzeiger, „ich bin sehr froh, daß ich geboren bin, und doppelt froh, daß dies gerade in Frankfurt geschah. Denke Se bloß, wann ich wo anners geborn wär', was dhät ich da for e Deutsch babble!“

Den Heimatdialekt gebabbelt hat Ettlinger zeit seines Lebens, geschrieben hat er ihn nach 1927 nur noch selten. Seit 1903 hatte er sich mit seinen Mundartgedichten als der „alde Frankforder“ der Münchner Jugend etabliert, aber mit dem Ende seiner Mitarbeit für diese Wochenzeitschrift war 1927 auch der Abschied des „Frankforders“ gekommen. Der letzte rein frankfurterische Sammelband des Autors, Unschenierte Gedichtcher von eme alde Frankforder, war bereits 1916 erschienen. In seinen Novellen der Jahre 1917 bis 1925, unter anderem in seiner Meistererzählung Der Widerspenstigen Zähmung (1919), hatte er noch mit dem Dialekt als Stilmittel experimentiert. Zu jener Zeit aber, als er den eingangs zitierten Brief an die Frankfurter Zeitungsredaktion schrieb, hatte er schon andere Schwerpunkte in seinem Schaffen gesetzt. Er versuchte sich damals auf dem Gebiet der Unterhaltungsliteratur und hatte vor allem eine ausgedehnte publizistische Tätigkeit entwickelt, indem er alle nur möglichen Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum mit heiteren Feuilletons, insbesondere mit den ulkigen Karlchen-Humoresken, belieferte.

Manchmal wandte Ettlinger in seinen späten Humoresken noch das Frankfurterische an und ließ die Figuren darin babbeln, wie dem Autor der Schnawwel gewachse war. Von diesen Humoresken erstellte er jedoch meist auch Fassungen mit hochdeutschen Dialogen, so daß die Texte in ihrem Charakter nicht als spezifisch frankfurterisch gelten können. Daß sie dennoch amüsant sind, belegen zwei im vorliegenden Buch enthaltene Beispiele: Die zerbrochene Scheibe und Vatersorgen. Beide Texte sind nur in Typoskripten überliefert, die Ettlinger selbst um 1937/38 zur Genehmigung bei der Reichsschrifttumskammer einreichte. Damals stand der von den Nationalsozialisten verfemte Autor bereits unter Schreibverbot, und auch für die beiden eingereichten Typoskripte erhielt er keine Sondergenehmigung zur Veröffentlichung - u. a. weil er darin den Dialekt verwendet hatte.

Wie schon im ersten Lesebuch stammen aber auch in diesem zweiten die meisten der Texte aus der Blütezeit von Ettlingers Schaffen als Mundartschriftsteller, aus jener Zeit von 1903 bis 1927 also, als er für die Münchner Jugend Mundartgedichte und manchmal auch -glossen „von eme alde Frankforder“ schrieb. Die Geschichte des „alde Frankforders“ wurde bereits im Vorwort zum Lesebuch 1 erzählt, und sie soll hier nicht wiederholt werden; der interessierte Leser möge dort nachschlagen. Im ersten Lesebuch sind vornehmlich Texte enthalten, die der Autor selbst schon einmal für die Publikation in Anthologien, insbesondere für die speziell frankfurterischen Sammelbände Kraut unn Riewe (1907) und Unschenierte Gedichtcher von eme alde Frankforder (1916), ausgesucht hatte. Während somit im ersten Band eher zeitlos Heiteres zu finden ist, darunter so Beliebtes wie die Titelgeschichte Die geteilte Walküre oder das Frankfurter Schneewittchen, können die Freunde der Mundartliteratur im jetzt vorliegenden zweiten Band manch außergewöhnlichen Leckerbissen entdecken. Das Lesebuch 2 präsentiert nun nämlich auch selten oder niemals in einem Buch nachgedruckte Lyrik und Prosa „von eme alde Frankforder“. Dazu gehören etwa die Mundartbeiträge aus der späteren Jugend-Zeit, nachdem der Autor in seinem Karlchen-Album von 1923 letztmals eine kleine Auswahl von neueren Mundartbeiträgen publiziert und fortan keine Gelegenheit mehr zu einer weiteren Veröffentlichung der neuesten Dialekttexte in einem Buch hatte.

Vor allem aber wurden die aktuellen Beiträge „von eme alde Frankforder“ selten nachgedruckt, da sie nach journalistischen Grundsätzen für den allwöchentlichen Bedarf der Zeitschrift Jugend produziert und somit schnell veraltet schienen. Unter dem Titel Erlebdes werden im ersten Teil dieses Buchs dennoch einige Texte aus der Chronik von eme alde Frankforder vorgestellt, zumal sie aus heutiger Sicht durchaus von historischem Interesse sind. Dabei wurde allerdings auf eher allgemein politische Textbeiträge, in denen sich insbesondere nach 1918 oft die revanchistisch-nationalistische Haltung des Autors ausdrückt, verzichtet. Es soll aber dadurch nicht etwa vertuscht werden, daß es solche Texte von Ettlinger gegeben hat. Doch - wenn dies für den Literaturwissenschaftler vielleicht auch interessant sein könnte - für den heutigen Leser wären solche Texte nicht sehr vergnüglich und geradezu ungenießbar.

Statt dessen ist der Schwerpunkt der Chronik auf Frankfurter und kulturelle Themen gesetzt, wobei jedem Text ein möglichst unterhaltsam dargebotener Kommentar zu seinem historischen Hintergrund vorangestellt ist. In einigen Gelegenheitsgedichten der Chronik ehrt der „alde Frankforder“ auf seine eigenwillige Art Dichter und Denker, historische und zeitgenössische Persönlichkeiten des kulturellen Lebens. Wie schon im ersten Lesebuch dürfen dabei Zeichen der tiefen Verehrung für seinen „größten Landsmann“ Goethe nicht fehlen. In anderen Beiträgen kommentiert der „alde Frankforder“ die zeitgenössischen Ereignisse in seiner Vaterstadt, die er auch aus der Ferne, von München aus, immer im Auge behielt. In diesen Texten spiegelt sich auf ungewöhnliche Weise die Frankfurter Stadtgeschichte wider, und die Chronik versteht sich somit als ein besonderer Beitrag zum 1200jährigen Jubiläum der Stadt Frankfurt am Main im Jahre 1994. Der erste Teil der Chronik beginnt mit dem Jahre 1903, in dem Ettlinger erste Beiträge „von eme alde Frankforder“ für die Jugend schrieb. Herausragende Ereignisse der Frankfurter Ära Adickes, wie die „Internationale Luftschiffahrt-Ausstellung“ oder die Gründung der Universität, werden kommentiert. So wird die Epoche des Aufstiegs der Stadt zur Mainmetropole dokumentiert, die erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endete. Die Zeit des Krieges ist in der Chronik nicht erfaßt, da sie bereits im ersten Lesebuch ausreichend berücksichtigt wurde. Die Chronik setzt erst 1922 wieder ein, und zwar mit einer Glosse, die eine der Kriegsfolgen, nämlich die Inflation, zum Thema hat. In jenem Jahr 1922 veröffentlichte Ettlinger seine Kindheitserinnerungen Frankforter Gebabbel als Artikelserie im Frankfurter General-Anzeiger, und auch zwei der hier enthaltenen Gedichte erschienen nicht mehr in der Jugend, sondern in anderen Zeitungen (und zwar Ludwig Fulda zum 60. Geburtstag 1922 in der Frankfurter Zeitung und das Jubiläumsgedicht für den Frankfurter General-Anzeiger 1926 in dem darin besungenen Blatt). Damals war Ettlinger nämlich schon nicht mehr Redakteur, sondern nur noch freier Mitarbeiter bei der Jugend, und hatte sich als freier Schriftsteller, ohne den sicheren Rückhalt durch die feste Anstellung, inzwischen auch andere Arbeitsgebiete erschließen müssen. Die Chronik endet 1926, im Jahr vor dem endgültigen Abschied des „alde Frankforders“ von der Jugend.

Die auf die Chronik folgenden Themenkomplexe des vorliegenden Buchs präsentieren aber noch unverfälscht den „alde Frankforder“ der Münchner Jugend, wie er sich bereits in dem früher erschienenen Lesebuch 1 vorgestellt hat. So wird unter dem Titel Erlauschdes wiederum pointiert Anekdotisches und typisch Frankfurterisches aus dem Leben der kleinen Leute dargeboten. Der Abschnitt über Karlche, worin humoristische Gedichte aus dem eigenen Erleben des Autors gebracht werden, korrespondiert mit dem über Hannche, heiteren Episoden aus dem Eheleben, die Ettlingers erster Frau, Johanna Kretschmann (1874-1925), gewidmet sind. Diesem autobiographisch gefärbten Textteil, der in der Selbstdarstellung des Verfassers und seines Verhaltens im vertrackten Alltag an Ettlingers spätere Karlchen-Humoresken erinnert, folgen zwei thematisch orientierte Abschnitte, deren Sujets im Schaffen des Autors immer wiederkehren. In seinem Liewesgeflister, das manchmal rokokohaft verspielte Züge hat, aber im rechten Moment auf den Boden frankfurterischer Tatsachen zurückkehrt, gefällt sich der „Frankforder“ in der Rolle des lausbübischen Bonvivants. Von richtigen Lausbuben handeln dann die Kinnereie des letzten Abschnitts. Ettlinger - der selbst kinderlos war, aber für sich lebenslang das Image des Lausbuben Karlchen beanspruchte - erzählt darin Kindergeschichten, die zwar manchmal ein heute etwas antiquiert wirkendes Bild von Kindern und deren Erziehung vermitteln, aber dennoch erheiternd und manchmal auch anrührend sind.

Das bereits erschienene Lesebuch 1 trägt den Titel des berühmtesten frankfurterischen Textes von Karl Ettlinger, Die geteilte Walküre, und appelliert damit an das Erinnerungsvermögen seiner früheren Leser. Als erste umfassende Neuausgabe frankfurterischer Gedichtcher un Geschichtcher von Karl Ettlinger seit dem Tod des Autors hat der Band die beliebten Texte endlich wieder greifbar gemacht. Das Lesebuch 2 stellt nun seltenere, unbekannter gebliebene Texte vor, die sich oft thematisch wie formal dem Klischee der Mundartliteratur erfolgreich verweigern und die es durchaus zu entdecken lohnt. Durch die Edition rundet sich das Bild von Karl Ettlinger als einem ungewöhnlichen Frankfurter Mundartschriftsteller.

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