Karlchens Erfolg und Verfolgung

Cover Erfolg und Verfolgung

Sabine Hock

Karlchens Erfolg und Verfolgung

Die Lebensgeschichte des Schriftstellers Karl Ettlinger (1882–1939)

Nidderau: Naumann 1997
(Ettlinger · Lesebuch 3)
 

Vorwort

Wenn es nach den Nationalsozialisten gegangen wäre, dürfte es dieses Buch über Karl Ettlinger gar nicht geben. Der Schriftsteller, der vor 1933 als Karlchen ungeheuer beliebt war und mit seinen humoristischen Büchern ziemlich hohe Auflagen erreichte, wurde in der NS-Zeit brutal verfolgt und ausgebeutet, nur weil er Jude war. Die Nazis haben zuerst seine Werke vernichtet und dann seine Gesundheit ruiniert. Ettlinger ist daran zerbrochen und gestorben. Beinahe wäre es dem nationalsozialistischen Terrorregime tatsächlich gelungen, die Erinnerung an den einst so populären Autor für alle Zeiten auszulöschen. Nach 1945 war Karl Ettlinger fast vergessen.

Nur in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main hatten einige Mundartfreunde, darunter der Volksschauspieler Carl Luley, Ettlingers Frankfurter Schneewittchen und andere seiner bekannten Dialektwerke in illegalen Abschriften mutig über das „Dritte Reich“ hinweggerettet. Gleich nach Kriegsende besann sich Luley auf Ettlingers Erbe und trug seitdem alljährlich zu Weihnachten das Frankfurter Schneewittchen im Radio vor. Später pflegte die 1996 verstorbene Schauspielerin Liesel Christ, die Gründerin des Frankfurter Volkstheaters, das Andenken an Ettlinger. Seine frankfurterischen Werke, darunter den urkomischen Dialog Die geteilte Walküre und viele Mundartgedichte, nahm sie auf ihren Vortragsreisen sogar bis zu den alten Frankfurtern nach Israel mit. Carl Luley und Liesel Christ ist es vor allem zu verdanken, daß Karl Ettlinger wenigstens als Frankfurter Mundartschriftsteller in seiner Heimatstadt unvergessen blieb, obwohl es jahrzehntelang keine Bücher von ihm mehr im Handel gab. Seit 1993/94 liegt eine Neuausgabe seiner frankfurterischen Gedichtcher un Geschichtcher in den beiden Bänden Die geteilte Walküre (Ettlinger · Lesebuch 1) und Erlebdes un Erlauschdes (Ettlinger · Lesebuch 2) des Verlags Michaela Naumann vor.

Dagegen blieb die Lebensgeschichte von Karl Ettlinger bislang unbekannt. Erst eine mühsame Spurensuche in zahlreichen Bibliotheken und Archiven ermöglichte die Rekonstruktion seiner Biographie, die in diesem Buch endlich vorgelegt werden kann. Zunächst bietet sie sich als die typische Laufbahn eines durchschnittlich talentierten deutschen Schriftstellers im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dar, die aufgrund ihrer zeithistorischen Bezüge und einiger literaturgeschichtlicher Leckerbissen immerhin interessant nachzuvollziehen ist. Doch eigentlich erzählenswert wird Ettlingers Lebensgeschichte durch ihr tragisches Ende. Ettlingers Schicksal läßt begreifen, was das Leben unter einer Diktatur für den einzelnen Menschen bedeuten kann und wie der nationalsozialistische Terror gegen Juden und Andersdenkende funktionierte: wie ein braver, deutscher Durchschnittsbürger plötzlich drangsaliert und schließlich systematisch verfolgt wurde und wie sich die Schlinge um seinen Hals langsam zuzog, bis ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Luft wegblieb.

„Principiis obsta!“ mahnte schon Ovid vor rund zwei Jahrtausenden, und Erich Kästner erinnerte in seiner Rede zum 25. Jahrestag der nationalsozialistischen Bücherverbrennung („Über das Verbrennen von Büchern“, 1958) daran, daß Ovids Mahnung trotzdem noch gelte, „hier und heute“, „immer und überall“. Denn, so Kästner, „[d]rohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders, nicht des Heroismus.“ Deshalb müssen solche Geschichten wie die vom Schicksal des Schriftstellers Karl Ettlinger erzählt werden. Und daß sie überhaupt erzählt werden können, gibt uns immerhin die Hoffnung, daß es noch nicht zu spät ist.

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