100. Geburtstag von Herbert Marcuse

Mit einer Ausstellung erinnert die Stadt- und Universitätsbibliothek an den Sozialphilosophen

Am 19. Juli wäre Herbert Marcuse, der Sozialphilosoph aus dem Kreis der „Frankfurter Schule“, 100 Jahre alt geworden. In den 60er Jahren wurde der in die USA emigrierte Marcuse zu einer geistigen Leitfigur der Studentenbewegung. Die Ausstellung zeigt z.T. bisher unveröffentlichte Dokumente aus dem Nachlaß.

Frankfurt am Main (pia) - Im Jahr 1968 hatten die Begriffe des Philosophen Herbert Marcuse Hochkonjunktur: „Die große Verneinung“, „die Erotisierung der Politik“ oder „das Naturrecht auf Widerstand“ etwa waren Schlagworte der Studentenbewegung. Marcuse, damals Professor an der University of California in San Diego, war schnell zur geistigen Leitfigur jener Jugendrevolte avanciert, die sich als Widerstand gegen die US-amerikanische Vietnampolitik zunächst in Kalifornien entzündet hatte. Als die Protestwelle nach Europa überschwappte, stand Marcuse auch hier mitten im Geschehen. Er nahm 1966/67 am Vietnam-Kongreß in Frankfurt teil, besuchte kurz nach dem Tod von Benno Ohnesorg 1967 Berlin und sprach im Mai 1968 in Paris.

„Markuse war eine Integrationsfigur des linken Protestes. Inzwischen ist es in der Öffentlichkeit jedoch ein bißchen still um ihn geworden“, sagt Jochen Stollberg, der Leiter des Philosophischen Archivzentrums der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt. Mit einer Ausstellung zum bevorstehenden 100. Geburtstag von Herbert Marcuse will Stollberg nun an den bedeutenden Sozialphilosophen erinnern. Dafür kann der Bibliothekar aus dem reichen Fundus des Nachlasses schöpfen, der, zusammen mit anderen Nachlässen von Philosophen der „Frankfurter Schule“, im Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek aufbewahrt wird. In einer Regalwand lagern dort über 40.000 Blatt Briefe, Werkmanuskripte, Arbeitsmaterialien und biographische Dokumente von Marcuse, wohlgeordnet in dunkelroten Kästen. Aber noch längst nicht alles, was hier schlummert, ist veröffentlicht, und manches Stück aus dem „Marcuse-Archiv“ wird Stollberg in seiner Ausstellung zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentieren.

Am 19. Juli 1898 wurde Herbert Marcuse als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin geboren. Das Ende des Ersten-Weltkriegs erlebte er als Soldat. Vom Zusammenbruch der alten Ordnung in Europa überwältigt, engagierte er sich vorübergehend in einem revolutionären Soldatenrat und in der SPD, trat jedoch nach dem Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus der Partei aus. 1922 schloß Marcuse sein in Berlin und Freiburg absolviertes Studium der Philosophie, der deutschen Literaturgeschichte und Nationalökonomie mit der Promotion ab. Künftig lebte er in Berlin, wo er sich wissenschaftlich mit dem Marxismus auseinanderzusetzen begann und einen intellektuellen Salon unterhielt.

1928 ging Marcuse nach Freiburg, als Assistent von Martin Heidegger, dessen im Vorjahr erschienenes Werk „Sein und Zeit“ ihn sehr beeindruckt hatte. Marcuses Mitschriften der (teilweise nicht veröffentlichten) Vorlesungen Heideggers haben sich im Nachlaß des Schülers erhalten. „Sie sind heute eine der meistgefragten Quellen aus dem Archivzentrum, denn vor allem in den USA boomt derzeit die Heidegger-Forschung“, weiß Stollberg zu berichten. Auch die spätere Auseinandersetzung Marcuses mit seinem Lehrer, die sich an Heideggers politischer Annäherung an den Nationalsozialismus entfachte, ist im Frankfurter „Marcuse-Archiv“ dokumentiert.

Aufgrund seiner 1932 veröffentlichten Schrift „Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit“, mit der Marcuse sich ursprünglich bei Heidegger habilitieren wollte, kam er ins Gespräch mit Leo Löwenthal, der ihn an das Frankfurter Institut für Sozialforschung holte. 1934 folgte Marcuse dem Institut ins Exil in die Vereinigten Staaten. Dort erschienen seine Hauptwerke „Reason and Revolution“ („Vernunft und Revolution“, 1941), „Eros and Civilisation“ („Triebstruktur und Gesellschaft“, 1955) und „Ono Dimensional Man“ („Der eindimensionale Mensch“, 1964). Darin versucht Marcuse, die marxistische Gesellschaftstheorie auf die veränderte Wirklichkeit der Gegenwart anzuwenden und die Ergebnisse der Freudschen Psychoanalyse in diese Theorie einzubeziehen. Als „Philosoph der spätkapitalistischen Gesellschaft“, der die aktuelle Politik der USA schonungslos kritisierte, trat Marcuse immer stärker an die Öffentlichkeit. Das brachte ihm nicht nur die Sympathien der rebellierenden Studenten ein, sondern auch eine Morddrohung des Ku-Klux-Klan. Auch dieses merkwürdige Dokument hat Marcuse aufbewahrt, so daß der Bibliothekar Stollberg es im Nachlaß des Philosophen finden konnte und in seiner Gedenkausstellung zeigen wird.

Auf seinen Vortragsreisen kam Marcuse immer wieder gern nach Frankfurt. Auch 1979 machte er hier Station, um an den Römerberggesprächen teilzunehmen. Noch in Frankfurt erlitt er eine Woche später einen schweren Kreislaufkollaps, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Am 29. Juli 1979 ist Herbert Marcuse in Starnberg gestorben. Das Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek, das 1984 Nachlaß und Bibliothek des Philosophen übernahm, erhält heute Anfragen von Forschern aus aller Welt, die sich mit Marcuses Werk beschäftigen. In Deutschland interessieren sich die Wissenschaftler heute vor allem für Marcuses Thesen zum Nationalsozialismus. Im Dienst des „Office of Strategic Services“ in den USA hatte sich Marcuse seit 1941 intensiv mit der deutschen Mentalität und dem Phänomen des Faschismus auseinandergesetzt. Diese „Feindanalysen“, die sich im Typoskript in Marcuses Nachlaß im Archivzentrum der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek erhalten haben, wurden jetzt erstmals als Buch veröffentlicht.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 26 vom 07.07.1998

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