Die Märchenbrüder in der Mainmetropole

Die Brüder Grimm waren und wirkten oft in Frankfurt

Wohnen wollten die weltberühmten Märchenbrüder in der hektischen Mainmetropole nicht. Doch Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) haben Frankfurt häufig besucht. Sie knüpften hier freundschaftliche Kontakte und setzten wichtige Akzente zur Begründung der Germanistik – bis hin zu Jacobs Teilnahme an der Deutschen Nationalversammlung von 1848.

Frankfurt am Main (pia) Einmal geriet Wilhelm Grimm doch in Versuchung: Der Neubau der Stadtbibliothek an der Schönen Aussicht in Frankfurt hätte den Sprach- und Literaturwissenschaftler beinahe zur Übersiedlung an den Main verführen können. Noch hatten er und sein Bruder Jacob, die berühmten Märchenbrüder, aber ihren Platz in Kassel, wo sie an der Kurfürstlichen Bibliothek forschten und arbeiteten. Und eigentlich hielten sie beide nicht viel vom Leben in der zwar traditionsreichen, aber hektischen Mainmetropole. „In Frankfurt“, so schrieb Wilhelm Grimm im Juni 1822 dem Freund Achim von Arnim, „sagen mir Menschen und Lebensweise weniger zu (...), denn was ist seelenloser und bleierner als diese kaufmännische Rücksicht in allem, die edelsten Kräfte und schönsten Neigungen der menschlichen Seele richten sie aufs Geld, und darauf allein haben sie einen gemeinen Stolz.“ Auch Jacob Grimm meinte: „Mir für meine Gemütsart ist Frankfurt zu voll, unruhig, reich.“ Immerhin fügte er diplomatisch hinzu: „Indessen ist’s ein anderes, sich an einem Ort als bloßer Gast zu versuchen und sich an ihm einzuwohnen. Das Gute lernt sich erst allmählich erkennen.“

Zu Gast waren die Brüder Grimm häufig in Frankfurt. Zunächst kamen sie nur auf der Durchreise durch die zentral liegende Messe- und Handelsstadt, erstmals im Alter von fünf und vier Jahren, auf einem Ausflug mit den Eltern aus ihrer Geburtsstadt Hanau nach Bergen, wo sie einer Revue hessischer Truppen anlässlich der Kaiserwahl 1790 in Bergen zuschauten. Acht Jahre später, als die inzwischen verwitwete Mutter ihre beiden ältesten Söhne zum weiteren Schulbesuch nach Kassel schickte, hielten sie auf ihrer Fahrt mit der Postkutsche zu einem fast eintägigen Aufenthalt in Frankfurt. Der umsichtige Großvater hatte die alleinreisenden Jungen dem Oberpostmeister Simon Rüppell ans Herz gelegt, der ihnen mit einem bunten Programm die Zeit vertrieb. Nach dem „Caffe“, berichtete Jacob der Mutter, ließ er sie „allerhand Thiere, Elephanten, Tiger, Papageyen, Affen und noch viele andere, die damals just in Frankfurt waren, sehen“. Rüppells eigener Sohn Eduard, damals knapp vier Jahre alt, wurde später übrigens ein bekannter Afrikaforscher, dessen Sammlungen den Grundstock für das Senckenbergmuseum bildeten.

Jacob und Wilhelm Grimm wandten sich unter dem Einfluss ihres Lehrers Friedrich Carl von Savigny und dessen Schwager Clemens Brentano ab 1805 der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur zu. Bei ihren Frankfurtaufenthalten waren sie nun häufig zu Gast im Haus zum Goldenen Kopf, dem Stammhaus der Familie Brentano in der Großen Sandgasse. Durch die Brentanos erschloss sich den Brüdern Grimm schnell ein eigener Frankfurter Freundeskreis, in dessen Mittelpunkt der spätere Senator Gerhard Thomas stand. Bei ihm an der Schönen Aussicht traf sich eine geistige Elite zum „Freitagszirkel“. Neben den wichtigsten Frankfurter Vertretern der Romantik, wie dem Bibliothekar Johann Friedrich Böhmer und dem Rat Fritz Schlosser, verkehrten dort gelegentlich prominente Gäste, darunter Arndt, die Brüder Boisserée, Görres, Savigny, der Freiherr vom Stein und die Brüder Grimm. Bei einem Abendessen im Haus des Senators Georg Friedrich von Guaita, der mit Meline Brentano, Clemens’ jüngster Schwester, verheiratet war, begegnete Wilhelm Grimm im September 1815 auch Goethe, der gerade – zum letzten Mal – seine Vaterstadt besuchte.

Nach Thomas’ Tod 1838 kamen die Brüder Grimm seltener nach Frankfurt. Im September 1846 berief sie jedoch die Erste Germanistenversammlung wieder in die Stadt. Diese Konferenz der bedeutendsten Juristen, Historiker und Sprachforscher, die unter dem Vorsitz von Jacob Grimm im Kaisersaal des Rathauses Römer tagte, begründete nicht nur die Germanistik als die Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur. Sie war auch ein Vorspiel für die Deutsche Nationalversammlung, die keine zwei Jahre später, im Mai 1848, in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat. Zu den Abgeordneten des ersten freigewählten deutschen Parlaments gehörte Jacob Grimm, der im Plenum den ehrenvollen Platz in der ersten Reihe mitten vor dem Rednerpult einnahm. Er schloss sich bewusst keiner Partei an, sondern hatte immer das gemeinsame Ziel vor Augen: die deutsche Einheit in Freiheit. Seine wichtigste Rede hielt Jacob Grimm in der Debatte über die Grundrechte. Für deren Artikel I hatte er den Vorschlag eingebracht: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Sein Antrag wurde jedoch am 20. Juli 1848 mit 205 gegen 192 Stimmen abgelehnt.

Obwohl oder gerade weil Jacob Grimm neben der Parlamentsarbeit noch Zeit fand, sein wichtiges Werk „Geschichte der deutschen Sprache“ zu vollenden, war ihm das Drumherum bei seinem Aufenthalt in der überfüllten und umtriebigen Stadt bald lästig. Nirgendwo konnte er ungestört sein, weil ihm überall seine (vornehmlich weiblichen) Verehrer auflauerten. So blieb ihm zunächst nur die Flucht zu langen Spaziergängen vor die Tore. Infolge der Zuspitzung in der schleswig-holsteinischen Frage nach dem Waffenstillstand von Malmö vom 26. August 1848 verliefen auch die Sitzungen in der Paulskirche immer unerfreulicher. Nach erbitterten Debatten stimmte die Nationalversammlung im Sinne der alten politischen Mächte am 16. September dem Waffenstillstand und damit der Abtretung Schleswigs an Dänemark zu. Unter dem Eindruck dieses Eingeständnisses politischer Ohnmacht des Parlaments fasste Jacob Grimm am folgenden Tag, einem freien Sonntag, seinen Entschluss. Er wollte sofort einen dreiwöchigen Urlaub nehmen, um danach nicht mehr nach Frankfurt zurückzukehren. Von Berlin aus, wo die Brüder seit 1841 lebten, erklärte er, „obwohl bewegten Herzens“, aus persönlichen Gründen seinen Austritt aus dem Parlament. Künftig widmeten sich Jacob und Wilhelm Grimm in Berlin wieder ganz ihrer Wissenschaft.

Sabine Hock

Mehr über die Brüder Grimm in Hessen erzählt die Autorin in ihrem im Societäts-Verlag erschienenen Buch „Grimms Hessen. Ein literarischer Reiseführer auf den Spuren der Brüder Grimm“. Es ist zum Preis von 12,80 Euro im Buchhandel erhältlich.

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 47 vom 27.11.2007

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