Zum 75. Todestag von Kätchen Paulus (1868-1935) am 26.7.2010

- Langfassung -

Ihr Prinz fiel vom Himmel. Eines schönen Tages, so will es die Legende, soll der Luftfahrer Hermann Lattemann mit seinem Ballon im Vorgarten eines Frankfurter Hauses notgelandet sein. Dort wohnte die Witwe Paulus mit ihrer Tochter namens Kätchen. Als die Mutter erzählte, dass der Lattemann im Haus sei, fragte das junge Mädchen nur: „Ist er hübsch?“ Schnell fand es dann Gefallen an dem selbsternannten „Aerostateur“ mit dem verwegenen Backenbart. Als dieser fragte, ob Kätchen mit ihm in die Luft gehen würde, antwortete es: „Sofort!“ Um gleich auf gut Frankfurterisch hinzuzufügen: „Sogar abspringe deet ich!“ Tatsächlich verlief die erste Begegnung der kleinen Näherin mit dem kühnen Ballonfahrer und Fallschirmspringer wohl nicht ganz so märchenhaft. Kätchen Paulus sah den Luftakrobaten Lattemann erstmals um 1890 bei einer seiner Vorführungen in Wiesbaden, und sie war so begeistert von ihm und seiner Kunst, dass sie ihm offenbar regelrecht hinterherlief. In der Werkstatt, in der die Ballone ausgebessert und die Fallschirme genäht wurden, lernte sie den Piloten persönlich kennen. Es begann eine ungewöhnliche Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, in deren Verlauf bald auch Kätchen – als erste deutsche Frau – den Fallschirmsprung wagte. Nach Lattemanns tragischem Tod bei einem Absturz im Sommer 1894 machte sich Kätchen Paulus als die erste Berufsluftschifferin selbstständig.

Von unten nach oben

Vor 75 Jahren, am 26. Juli 1935, starb Kätchen Paulus in Berlin. Zu ihrer Beerdigung auf dem Reinickendorfer Dankesfriedhof reiste auch ein Vertreter der aufstrebenden Luftverkehrsstadt Frankfurt am Main an, der der Pionierin der Luftfahrt einen letzten Gruß aus ihrer früheren Heimat überbrachte. Geboren wurde Katharina Paulus, die sich selbst später Kätchen oder auch Käte (ohne h!) nannte, am 22. Dezember 1868 allerdings in Zellhausen bei Seligenstadt im Kreis Offenbach. Bereits im Alter von etwa acht Jahren aber kam sie mit ihren Eltern in den Frankfurter Vorort Oberrad, und von dort übersiedelte die Familie 1878 direkt in die Mainstadt, wo der Vater Wilhelm Paulus, ein gelernter Schmied, als Tagelöhner begann. Kätchen besuchte die Volksschule und wurde dann zur Näherin ausgebildet, angeblich in einer Werkstatt für feine Damenbekleidung. Eine Zeitlang lebte die Familie in Darmstadt, wohl wegen der besseren Berufschancen für den Vater, der sich dort zum Maschinenheizer emporarbeitete. Nach seinem frühen Tod 1887 zogen die Witwe Maria Paulus und ihr Kätchen zurück nach Frankfurt, in eine Hinterhauswohnung in der Waldschmidtstraße 58, also ganz in der Nähe des Zoologischen Gartens. Dort im Zoo führte auch der Luftfahrer Hermann Lattemann, der um diese Zeit in Kätchens Leben schwebte, seine Künste vor. Allzu gern wird die Mutter den Luftikus zunächst nicht als Partner ihrer Tochter gesehen haben, selbst wenn Kätchen bald ein Kind von ihm erwartete. Ihr Sohn Willy Hermann, den sie nach ihrem Vater und ihrem Geliebten benannte, wurde am 7. März 1891 unehelich geboren.

Sprung aus 1.200 Metern Höhe

Anfangs war Luftschiffer Lattemann besonders von Kätchens Nähkünsten begeistert. Die ausgebildete Näherin lernte schnell das Ausbessern und bald auch die Herstellung von Ballonen und Fallschirmen. Dass dabei – wie sie rückblickend einmal schilderte – „mit der peinlichsten Vorsicht und Sorgfalt“ gearbeitet werden musste, da schon das geringste Versehen über Leben und Tod entscheiden konnte, ging ihr allmählich in Fleisch und Blut über. Ihr größter Wunsch jedoch war weiterhin, einmal selbst als Aeronautin aufsteigen und abspringen zu dürfen. Nach drei Jahren intensiver Vorbereitung, in denen Lattemann sie mit der Technik vertraut machte und auch in der Wetterkunde unterrichtete, war es am 19. Juli 1893 in Nürnberg endlich soweit: Kätchen durfte zum ersten Mal im Ballon mitfahren, und nur vier Tage später wagte sie ihren ersten Absprung mit dem Fallschirm aus 1.200 Metern Höhe. „Ich glaube“, erzählte sie später, „dass Lattemann mehr Angst um mich hatte als ich. ‚Jetzt ist es soweit’, sagte er. Ich sah noch in einmal in sein bewegtes Gesicht. Ein letzter Gruß, dann schloss ich die Augen und sprang in die Tiefe. Bei dem Sturz fühlte ich zunächst große Atemnot. Plötzlich gab es einen starken Ruck. Mein erster Blick nach oben zeigte mir, dass mein Fallschirm sich entfaltet hatte. Ein beglückendes Gefühl der Sicherheit überkam mich, während ich langsam niedersank.“ Künftig tingelten Lattemann und Kätchen zusammen von Stadt zu Stadt, um überall ihre aeronautischen Kunststücke vorzuführen. Zu Kätchens besonderer Spezialität wurde der Doppelabsturz, bei dem sie vom Ballon absprang und einen ersten Fallschirm aufgehen ließ, sich kurz darauf von diesem löste und nach einem weiteren Moment freien Falls einen zweiten Fallschirm öffnete.

Der Luftschifferin Leid

Nach nur knapp einem Jahr gemeinsamer Arbeit kam Hermann Lattemann bei einem Absturz in Krefeld am 17. Juni 1894 ums Leben. Kätchen war bereits mit dem Fallschirm aus dem Ballon abgesprungen, und dann wollte Lattemann seine neuartige Konstruktion, die sich durch einen Zug an der Leine vom Ballon in einen Fallschirm verwandeln lassen sollte, ausprobieren. Doch der Mechanismus versagte, und Lattemann sauste mit dem Ballon zur Erde – vor den Augen von Kätchen, die kaum zehn Meter entfernt an ihrem Fallschirm hing und alles mitansehen musste, ohne helfen zu können. Kätchen erlitt einen Nervenschock und wollte nie wieder aufsteigen – bis ihre Fans in ganzen Wagenladungen von Briefen aus allen Ländern Europas sie zum Weitermachen ermutigten.

Erfolgreiche Existenzgründerin

Trotz eines weiteren persönlichen Schicksalsschlags – ihr vierjähriges Söhnchen starb im Sommer 1895 an Diphtherie – baute sich Kätchen Paulus in den folgenden Jahren eine Existenz als Berufsluftschifferin auf. Sie wurde „ihre eigene Managerin, Pressechefin, technische Leiterin und Hauptdarstellerin“ (Gerta Walsh), die es prächtig verstand, sich und ihre Auftritte europaweit zu vermarkten. Zum Image von Kätchen Paulus, die sich international „Miss Polly“ nannte, gehörte auch ein entsprechendes Outfit, eine Fantasieuniform als Luftschifferin mit weißer Matrosenmütze, knapper Jacke, knielangen Pluderhosen und hohen Schnürstiefeln, die allein schon für Aufsehen sorgte. Ihrer umsichtigen Vorbereitung der Aufstiege und Absprünge schrieb Kätchen es zu, dass ihr niemals etwas Ernsthaftes passierte. Nur einmal brach sie sich den Fuß. „Winde und Wolken müssen ihr gewogen gewesen sein (…)“, meinte der Luftfahrthistoriker Peter Supf, „denn sie haben ihr, der Primadonna der Lüfte, nie einen Streich gespielt.“ Öfter bekam es Kätchen dagegen mit der Polizei zu tun: Nach mehr oder weniger glücklichen Landung musste sie mal eine Geldstrafe für einen verbogenen Kandelaber in Budapest entrichten, mal ein Strafmandat wegen Feldfrevels auf einem Acker im hessischen Wöllstein einstecken oder sich auch wegen unerlaubten Landens auf einer Hauptgeschäftsstraße in Wien verantworten.

Im Frankfurter Zoo ging „das Kättche“ in die Luft

Besonders gefeiert wurde Kätchen Paulus in ihrer Heimatstadt Frankfurt, wo sie ab 1894 regelmäßig – meist vom Zoologischen Garten aus – in die Luft ging. In Scharen pilgerten die Frankfurter bei ermäßigtem Eintritt sonntags in den Zoo. Dort überwachte „das Kättche“ höchstpersönlich ab zwei Uhr nachmittags das Füllen des etwa 12 Meter hohen Ballons mit Namen wie „Kosmos“ oder „Meteor“. Gegen sechs Uhr abends stieg sie dann unter dem Jubel der Massen in die Lüfte, um bald darauf – nicht allzu weit vor Frankfurt – mit dem Fallschirm abzuspringen und am späteren Abend mit der Kutsche wieder im Zoo zu erscheinen. Manchmal soll sie auch am Fallschirm von der künstlichen Ruine des Aquariums gesprungen sein, und schon früh verknüpfte sie ihre Auffahrten geschäftstüchtig mit Werbezwecken, etwa als sie im Sommer 1899 durch den Aufstieg mit einem „Fahrrad-Luftballon“ (an dem statt der Gondel ein Fahrrad montiert war) für die Frankfurter Adlerwerke warb.

Fallschirme für das Militär

Bei der „Internationalen Luftschiffahrt-Ausstellung“ (Ila) in Frankfurt 1909 war Kätchen Paulus mit einem eigenen Verkaufsstand vertreten. Denn immer hatte die Luftschifferin ihre Ballone und Fallschirme selbst hergestellt. Seit dem Verlust ihres Lebensgefährten durch das technische Versagen seines Fluggeräts schenkte sie ihre besondere Aufmerksamkeit der Verbesserung ihrer Fallschirme. Sie entwickelte den bis heute üblichen „Paketfallschirm“ oder auch „Rettungsfallschirm“, der zudem deutlich sicherer als die früher offen gewickelten Fallschirme war, wofür sie später (1921) sogar ein Schweizer Patent erhielt. Im Jahr 1912 übersiedelte Kätchen Paulus nach Berlin, wo sie sich im Auftrag der Preußischen Heeresluftfahrtverwaltung verstärkt der Produktion widmen wollte, während sie ihre eigene Fliegerei – nach 516 Ballonfahrten und 147 Absprüngen – spätestens mit Beginn des Ersten Weltkriegs aufgab. Seit 1915 produzierte sie in eigener Werkstatt rund 1.000 Ballone und fast 7.000 Fallschirme für das Militär, wofür sie stets eigenhändig den Stoff – etwa 20.000 Meter pro Woche – zuschnitt. Einem Fallschirm der Marke „K. P.“ verdankten bald so viele Soldaten ihr Leben, dass Käte Paulus mit hohen Kriegsorden ausgezeichnet wurde.

Am Boden in Berlin

Nach dem Verlust ihres Vermögens, das sie in ihrer aktiven Zeit als Luftschifferin verdient, dann aber in Kriegsanleihen investiert hatte, und dem Erliegen der Luftfahrt infolge des Versailler Vertrags führte sie ein bescheidenes Dasein als Rentnerin in Berlin. Als sie einem längeren Krebsleiden 1935 erlag, kamen auch zwei junge Fliegerinnen zu ihrer Beerdigung, Elly Beinhorn und Hanna Reitsch, die ihre Rekorde nicht mehr am Fallschirm, sondern mit dem Flugzeug errangen. Auch Kätchen hatte vor vielen Jahren einmal versucht, den Motorflugschein zu erwerben. Doch ausgerechnet daran war die sonst so erfolgreiche Luftpionierin gescheitert.

Sabine Hock

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