Liesel Christ Biographie: Umfrage
Knopf im Ohr
Günter Andreas Pape *
Die Fernsehaufzeichnung des Volksstücks „Die Kandidatin“ war im Jahr 1975 der gelungene Start einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem Volkstheater und der Fernseh-Unterhaltung des Hessischen Rundfunks. Bisher sind 17 Fernsehproduktionen in Zusammenarbeit zwischen dem Volkstheater Frankfurt und dem Hessischen Rundfunk produziert worden. Wenn wir die 15-Minuten-Satire „Die geteilte Walküre“ mitzählen, sind es 18 Sendungen. In 12 von ihnen hat Liesel Christ mitgespielt. Eine Lieblingsrolle, vielleicht wirklich der ihr liebste Charakter, war die Frau Gudula in Carl Roesslers Lustspiel „Die fünf Frankfurter“. Das sind die fünf Rothschild-Söhne, die ihre Mutter Gudula im Haus in der Frankfurter Judengasse besuchen.
Im Januar 1995 wurde das Bühnenstück, das von Wolfgang Kaus bearbeitet und inszeniert worden war, für das Fernsehen aufgezeichnet. Ich hatte die Fernsehregie übernommen und bemerkte voller Schrecken, dass der sonst so textsicheren Liesel Christ, die das Stück ungezählte Male gespielt hatte, oft der Text fehlte. Es ist manchmal so, dass die Schauspieler irritiert sind, wenn das Fernsehen mit Kameras, Zusatzscheinwerfern und eben der gesamten notwendigen Technik in eine festgefügte Bühnenaufführung einbricht. Folgt dann die Vorstellung, die gesendet oder aufgezeichnet wird, kommt über alle das „Wunder der Premiere“. Hier war es nicht so. Wir erlebten den Kampf der erfahrenen Schauspielerin mit dem Text, den ihr das Gedächtnis nicht mehr liefern konnte. Disziplin, langjährige Erfahrung und ein sprichwörtliches Improvisationstalent erfanden immer neue Tricks, die Situationen, in denen sich die eigene Figur auf der Bühne befand, zu retten. Die Schauspielerkollegen halfen auf rührende Weise, die Unsicherheiten und die entstandenen Pausen zu überbrücken. Überdeutlich hörten wir die Souffleuse über unsere Mikrophone. Es ergaben sich tragikomische Augenblicke, wenn Liesel Christ einfach neue Worte erfand. Im neunten Auftritt des Stückes zum Beispiel hatte sie zu sagen: „Ich geb ihne von meim Amschel seim rode Burgunder.“ Sie sagte: „Ich geb ihne vom Amschel seim… Susch.“ Die Schauspielerseele war stärker als ihr erkranktes Gedächtnis.
Wir waren zunächst ratlos. Die Aufzeichnung konnte man nicht senden. Für den nächsten Tag war zwar eine zweite Vorstellung angesetzt, aber es war klar, eine Besserung konnte bei unserer Gudula nicht eintreten. Die Bildmischerin und meine Regieassistentin sagten fast gleichzeitig: „Und nun?“ Sie sahen mich verständnislos an, als ich antwortete: „Die Gudula trägt einen Hut. Während des ganzen Stückes.“ Die Kollegen von der Technik hatten sofort begriffen, fuhren ins Funkhaus, um eine drahtlose Anlage zu besorgen. Das Empfangsgerät, der „Knopf im Ohr“, ließ sich gut unter dem großen Hut verstecken.
Ich bin zu den beiden Töchtern von Liesel Christ gegangen, um ihnen meinen Plan zu erläutern: „Wenn eine vertraute Stimme, wie die von Silvia Tietz (die in dem Stück nur eine kleine Rolle hatte) den Text durchgehend souffliert, und wir geben den Ton drahtlos unter Gudulas Hut, müsste es funktionieren – wenn sie das mitmacht. Wer sagt ihr, dass es anders nicht geht?“ Zunächst bin ich zu Silvia Tietz gegangen, um die Situation zu erläutern. Sie war sofort bereit. Damit ihre Stimme nicht zu den Mikrophonen dringen konnte, wurde sie hinter der Bühne vor einem Monitor mit ausgehendem Bild platziert. Ich konnte mich auf sie verlassen, denn Liesel Christ vertraute ihrer einfühlsamen Silvie.
Der Gang zu Liesel Christ fiel mir schwer. Ich hatte die beiden Töchter gebeten, in der Nähe zu bleiben. Wir wussten nicht, wie ihre Mutter reagieren würde. Dann hatten wir beide ein durchaus heiteres Gespräch über ihre teilweise sehr komischen Versprecher. Schließlich habe ich gesagt: „Weißt du, wie Therese Giehse, als sie keinen Text mehr behalten konnte, ihre letzten Fernsehrollen gespielt hat? Sie hatte einen Knopf ins Ohr bekommen, so dass sie deutlich den gesamten Text hören konnte.“ Die Antwort: „Und ich hab mich immer gewundert, wie die Frau in ihrem Alter noch diese Texte behalten konnte.“
Wir setzten für den nächsten Tag vor der Aufzeichnung eine Verständigungsprobe an. Die drahtlose Anlage war geliefert worden, und sie funktionierte! Liesel Christ konnte mit dieser Technik sofort umgehen. Sie war glücklich, die Stimme ihrer Silvie deutlich zu hören, sie war sicher und entspannt und spielte die Frau Gudula wie in ihren besten Zeiten. Aber: Es war Liesel Christs letzte Rolle. Die Prinzipalin, Leitfigur und guter Geist ihres Volkstheaters, konnte nicht mehr auf der Bühne stehen. Nie mehr.
* Der Regisseur Günter Andreas Pape hat als Leiter der Hauptabteilung Fernseh-Unterhaltung beim Hessischen Rundfunk (ab 1974) – gegen allerhand Widerstände aus dem eigenen Haus – das Volkstheater ins Fernsehen gebracht. Teilweise führte er bei den Aufzeichnungen auch selbst die Regie.